LAGWAGON „Hang“





„How do you suffer? Feel pain? Feel sorrow for anything?“ Die ersten Zeilen von „Burden of Proof“, der ersten Nummer auf „Hang“, verraten eigentlich nichts neues. Mit einer Ausnahme: Lagwagon sind nach 9 Jahren wieder mit einem regulären Studioalbum zurück. Endlich! Ansonsten wie gehabt: depressive Lyrics, High-Speed-Performance der Instrumentalisten und Frontmann Joey Cape's schwarzgallige Melodien lassen die 90er-Jahre Auferstehen. Nicht weil Cape`s kreative Ader versiegt wäre, nein, die Band liefert mit voller Inbrunst auf „Hang“ ihre Musik gewordene Autobiographie ab. Eine verhaltenskreative Reminiszenz an alle ihre vorangegangenen Tonträger. Quasi ein Best Of im neuen Zwirn. Wenn man den Status den sich die Band als Flaggschiff des 90er Jahre Pop Punk erarbeitet hatte, berücksichtigt, ist man versucht zu sagen: des Kaisers neue Kleider.



Nach Jahrzehnten exzessiver Touren und all den privaten Rückschlägen ist diese Band auf sympathische Weise gealtert, sich selbst immer treu geblieben. Das ist umso bemerkenswerter, als das die Kalifornier eine jener Bands sind, die den strukturellen Wandel der Musikindustrie ganz besonders zu spüren bekommen. Vom Verkauf ihrer Alben können sie, wie viele andere auch, längst nicht mehr leben. Ihr täglich Brot ist die Tournee. Das Pensum das sie dabei erfüllen ist zum Teil enorm, ihre Ausdauer beeindruckend, ihre Integrität bewundernswert (verlockende Angebote der Major-Labels gab es in Zeiten der melodiösen Punk Rock-Hausse ja genug, ihrem Indie-Label „Fat Wreck Chords“, blieben sie aber treu). Schön, dass es sie noch gibt! LAGWAGON sind offensichtlich an einem Punkt angelangt, an dem sie sich fragten: wieso das Rad neu erfinden? Wer sich auf dieses Konzeptalbum, dessen Konzept die akustische Historie der Band ist, einlässt, sollte sich dessen gewahr sein. Man geht quasi einen Vertrag ein.




In diesem Sinne ist „Burdon of Proof“ die Präambel dazu. Es öffnet dem Rezipienten das Tor zur Melancholia, zur Elegie, zu einer Welt voller Schmerz und Resignation, wie sie Joey Cape (hoffentlich nur) zeitweise empfindet. „Reign“ ist dann der große, (vor)laute Bruder von „Burdon of Proof“, ein krakeelender Marktschreier. Er bedient sich der Eingangsmelodie, umrahmt diese mit einem galoppierenden Schlagzeug und kompromisslosen Power-Riffs, ist quasi sein Sequel. Lagwagon in Höchstform. Nach dem leisen, zaghaften Präludium kommt „Reign“ wie eine Watsche daher, ohne Vorwarnung, geradewegs aufs Ohr, dass sie dann Tinitus-pfeifend und verdutzt zurück lässt.


Der Soundtrack zu einer Generation Y Gedenkparty: Dunkel der Text, fett das Riff, melodiös der Gesang. Wer schon zu breit in der Couch versinkt, nickt anerkennend mit dem Kopf im Takt, wer noch kann, räumt im Moshpit auf. Eine Hymne zum schwelgen. Auf der nächsten Nummer hört man erstmals klar die Vergangenheit. „Made of Broken Parts“ könnte ihrem Album „Trashed“ entsprungen sein. Mit „The Cog in the Machine“ glaubt man ihr Debüt „Duh“ zu hören. Es wird erstmals gravitätisch. Bass und Gitarren sägen schwer durchs Metall. Die Funken sprühen förmlich. Das Schlagzeug drescht wie Hammer auf Amboss. Heavy Metal á la Lagwagon. Dabei bleibt Cape's Gesang was er immer schon war. Ein Fanal. Der Verkünder des Unheils. Der Rufer in der Wüste: Ein Song wie eine Dystopie. Und wie selbige ist auch er gewöhnungsbedürftig. Mehrmaliges Anhören wird empfohlen. Gute Musik muss man sich manchmal auch erarbeiten. „Poison in the Well“ scheint auf den ersten „Blick“ die graue Maus auf „Hang“ zu sein. Der groovige Mittelteil mit elegantem Gitarrensolo, er klingt nach 60er und 70er Rock, belehrt aber eines Besseren. Er weckt übrigens Erinnerungen an Lagwagons letztes Studioalbum „Resolve“. Wer sich mit den Texten Joey Cape's auseinander setzt, weiß, der Mann macht sich Sorgen. „Hang“ beschreibt den Istzustand einer Welt, deren Realitäten ihm nicht zuletzt als Vater einer Tochter Angst bereiten. Legitim.

 


Im Anschluss folgt das, was man wohl als Monster dieses Albums bezeichnen sollte. Nicht zufällig in die Mitte des Albums gerammt, ist „Obsolete Absolute“ ein über 6 minütiges (bei einer Punk Band ist das lang :) ) Punk Rock-Melodram, das musikalisch als auch textlich alles vereint, was uns Joey Cape sagen will. Wenn „The Cog in the Machine“ die Lunge dieses Albums ist und „Reign“ die Watsche, dann ist dies hier das Herzstück. Gitarren wie Sirenen, die Rhythmen sind zu erst midtempo, stampfen im Staccato dahin, wirbeln Staub auf, dann etwas zügiger um danach in Lichtgeschwindigkeit zu verfallen. Die Gesangsmelodie macht fast Angst so düster und schön zu gleich. „Heritage has lost it's mind, we are undefined“. Wehklagen mit Lagwagon. Die Bridge erhellt dann für kurze Zeit die Gemüter, vertreibt die Nebelschwaden aus den beklemmten Seelen, bevor wieder Sirenen jeden auf den grauen Boden der Tatsachen zurückholen und erneut ein nahendes Ende zu verkünden scheinen. Bei Lagwagon gibt es kein Happy End, nicht auf „Hang“.


„Obsolete Absolute“ ist eine Mischkulanz einer 2014er Version der beiden Alben „Let’s Talk About Feelings“ aus den späten 90ern und „Blaze“ aus den frühen 00er Jahren; frank und frei in den Historienhäcksler katapultiert: Oben Geschichte rein, unten Neues raus gefetzt. Diese Nummer ist wie eine Armee die in ein Land einmarschiert, um es, einmal darüber getrampelt, brach liegend zurückzulassen. Es geht ähnlich dynamisch weiter. Kein zögern, kein zaudern. „Western Settlements“ fügt sich nahtlos in das Spalier der Wehklagenden ein. „These Western settlers, i have always warned them, just like your granddad said, never spend what you don't have. I am you, I am everything you own, I am you.“; während im akustischen Hintergrund die nun als Rhythmusfraktion zu einer Einheit verschmolzene Band wie eine Dampflokomotive unaufhaltbar auf einen zu rast.


„Burning Out in Style“ kommt fast optimistisch daher. Sehr melodiös, für einmal nicht in Dur. Ein Song wie ein sportlicher Cabriolet. Es ist dies aber nur akustische Camouflage für den Zynismus, der sich hinter all dem verbirgt. Cape's Weltschmerz macht auch hier keine Pause.


Seine Lyrics sind wie ein Moloch, ein Sog in den Sumpf der Traurigen. Es folgt „One More Song“. Ein rührender Abgesang an Joey Cape's besten Freund Tony Sly, musikalischer Wegbegleiter und ehemaliger Sänger von No Use For A Name, der im Sommer 2012 überraschend verstarb. Dieses Stück überrascht vor allem durch seine positiven Vibes, begleitet von einem wunderschön klingenden Piano. Es rockt. Mit „Drag“ wirds dann wieder brachial. Wer nicht Lagwagon- Sympathisant ist, den Novembernebel satt hat und dem Leben auch etwas positives abgewinnen will, hat wohl spätestens jetzt von „Hang“ genug. Quasi einen „Hang“-over.

 

„You Know Me“ besticht in Folge durch ein sanftes, verspieltes Intro, in dem Gitarristen und Bassist vorführen, was Harmonie bedeuten kann. Bevor die Band wieder alle Schleusen öffnet und eine gehörige Sound- Tsunami auf Ohr und Synapsen los lässt, als ob es kein Morgen gäbe. Sein Ende findet „Hang“ in „In Your Wake“. Der Wind ist zu diesem Zeitpunkt aber schon aus den Segeln. Der fulminant-furiose Zielsprint, bei dem sich die Band speedtechnisch noch ein letztes mal nah am Schallmauerdurchbruch bewegt, tröstet darüber ein wenig hinweg.


Fazit: gesellschaftskritische Sozialstudie mit Geschwindigkeitsübertretung. Bei der neuen Lagwagonplatte verblästs einem glatt die Frisur. Da hilft auch kein Dreiwettertaft. Gibt man sich „Hang“ sitzend vor dem Laptop, muss man sich zeitweise am Schreibtisch festhalten. Die geballte Wucht die einem entgegen schlägt, machts nötig. Auch wenn gegen Schluss hin, die Windstärke etwas nachlässt, der Tornado zur Böe wird und „Hang“ einer tonalen Redundanz anheim fällt.


Was bleibt ist die erfreuliche Erkenntnis, dass Lagwagon wieder da sind, es immer noch können und mit „Hang“ eine volle Breitseite für den geneigten Hörer, die geneigte Hörerin abliefern, der Schlagzeuger nach wie vor eine wahre Hochgeschwindigkeitsmaschine ist und Joey Cape unter den Punk Rockern mit seinen Lyrics zu den Intellektuellen zu zählen ist, denn in in Cape's Texten ist immer November. Wer also eine Halligalli-Drecksau-Party auf intellektuell machen will, auf den dystopischen Spuren von Cape und Co lustwandeln möchte und etwas für 90er-Jahre-Nostalgie in neuem Gewand übrig hat, der darf sich dieses Album kaufen. Alle anderen nicht.

 

 


Erscheinungsdatum: 28.10.2014
Label: Fat Wreck Chords

Tracklist:

1. Burden of Proof
2. Reign
3. Made of Broken Parts
4. The Cog in the Machine
5. Poison in the Well
6. Obsolete Absolute
7. Western Settlements
8. Burning Outin Style
9. One More Song
10. Drag
11. You Know Me
12. In Your Wake

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